Bewältigung abrupter Systemwandel

Sieht man von den gesundheitlichen Schäden einmal ab, zeigt die aktuelle Corona-Pandemie, dass schnelle und radikale Reaktionen durch Regierungen und Unternehmen sowie rasante Änderungen des Lebensstils möglich sind. Plötzlich ist es uns möglich, persönliche Gewohnheiten und Routinen anzupassen, unsere Reisepläne zu ändern und auch unsere Geschäftspraktiken auf die neue Situation anzupassen.

Bewältigung abrupter Systemwandel

Blogartikel von Prof. Dr. Ilona M. Otto

Sieht man von den gesundheitlichen Schäden einmal ab, zeigt die aktuelle Corona-Pandemie, dass schnelle und radikale Reaktionen durch Regierungen und Unternehmen sowie rasante Änderungen des Lebensstils möglich sind. Plötzlich ist es uns möglich, persönliche Gewohnheiten und Routinen anzupassen (z. B. auf das Händeschütteln zu verzichten), unsere Reisepläne zu ändern (z. B. auf Urlaubsreisen ins Ausland zu verzichten) und auch unsere Geschäftspraktiken auf die neue Situation anzupassen (und z. B. Konferenzen online abzuhalten oder das Arbeiten von zu Hause zu erlauben).  Haben diese Änderungen das BIP beeinträchtigt und Kosten verursacht? Ja, natürlich! Ist das ein Problem? Es gibt Bedenken, aber die meisten Bürger und Medien halten solche Änderungen für notwendig empfinden sie sogar als wünschenswert, um Risiken zu senken.

In diesem Kontext frage ich mich, was mit der Reaktion auf den ⁠Klimawandel⁠ falsch gelaufen ist. Seit über 30 Jahren wird international diskutiert, Regierungen halten Konferenzen ab, Nichtregierungsorganisationen sind involviert, viel Geld wird weltweit in alle möglichen Programme und Aktionen gesteckt, es gibt viele Bürger- und Jugendprotestaktionen und Terabytes an Daten und Tausende wissenschaftliche Arbeiten sind entstanden. Hat dies dazu geführt, dass das Welt-Erde-System einen neuen, nachhaltigeren Weg eingeschlagen hat? Die Antwort ist „nein“, und bis heute konnte nur die Corona-Pandemie mit ihren Quarantänemaßnahmen die globalen Emissionsraten von Treibhausgasen nennenswert zu reduzieren – wobei dies ein unbeabsichtigter Nebeneffekt war. Manche Quellen geben an, dass die globalen ⁠Treibhausgas⁠-Emissionsraten im April um ganze 17 % sanken. Dies ist die größte Senkung seit dem Zweiten Weltkrieg. Ohne massive strukturelle Änderungen ist jedoch davon auszugehen, dass die Emissionen wieder steigen werden, sobald die Quarantänemaßnahmen eingestellt werden. Experten warnen, dass wir nur sechs Monate Zeit haben, um den Verlauf der Klimakrise zu ändern und einen plötzlichen Emissionsanstieg nach den Quarantänemaßnahmen zu verhindern. 

Ich möchte in diesem Zusammenhang fünf wichtige Punkte hervorheben:

  1. Nichtlineare Veränderungen in menschlichen Gesellschaften sind möglich und wurden bereits beobachtet. Manchmal beschleunigt sich die Veränderungsdynamik auf verheerende Weise und es kommt zu Krisen und Kriegen – doch diese Dynamiken sind begrenzt kontrollier- und steuerbar. Katastrophen können als Gelegenheiten genutzt werden, indem sie uns zwingen, unsere Gedankenmodelle zu überdenken und zu Reflexionsprozessen anregen, die möglicherweise zur plötzlichen Abkehr von gewohnten Abläufen und Strategien führen. In meiner kürzlich in PNAS veröffentlichten Studie diskutieren meine Koautoren und ich, wie übertragbare Prozesse aus sich schnell verbreitenden Technologien, Verhaltensweisen und sozialen Normen auf der Gesamtsystemebene zu einer strukturellen Reorganisation führen können. Allerdings sind weder die üblichen Wirtschaftsmodelle noch integrierte Bewertungsmodelle in der Lage, die Wahrscheinlichkeit solcher nichtlinearen Dynamiken abzubilden oder zu schätzen. Die Wirtschaftswissenschaft im Allgemeinen – und insbesondere die Ressourcenökonomie – benötigt bessere Theorien und Instrumente.

  2. Radikale und rasante Reaktionen von Regierungen und Organisationen sind möglich. Wir brauchen Politiker und globale Führungspersonen, die den Mut haben, ehrgeizige Ziele zu setzen und zu verfolgen, um die Herausforderungen der globalen Gesellschaften anzugehen. Es ist wichtig, dass solche globalen Visionen und Ziele auf wissenschaftlichen und ethischen Prinzipien basieren und dass deren Realisierung durch wissenschaftliche Hilfsmittel und Methoden unterstützt wird.    

  3. Die Risikowahrnehmung ist besonders wichtig. Die globale Gesellschaft verhält sich manchmal wie eine Herde, doch in vielen Fällen rücken die Menschen näher zusammen, kooperieren und unterstützen sich gegenseitig. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das wahrgenommene Risiko hoch ist, wenn die Menschen den Eindruck haben, das System beeinflussen zu können und wenn sie glauben, dass ihre Entscheidungen von Bedeutung sind. Dagegen kann Angst zu Zerstörung und Panik führen. Um herauszufinden, was manche Risiken konkreter erscheinen lässt als andere und wie dieses Wissen genutzt werden kann, um globale Umweltprobleme anzugehen, sind weitere Studien notwendig.

  4. Aufgrund der Konnektivität und Komplexität globaler Systeme ist die Wahrscheinlichkeit für Pandemien oder andere Krisen, die durch globale Handelsnetzwerke, Finanzsysteme oder Verkehrsnetze kaskadieren, hoch. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass globale Krisen verschiedener Ausprägungen in Zukunft häufiger werden – viele davon werden wahrscheinlich durch ökologische Zwänge wie beispielsweise den Klimawandel bedingt sein. Die Gesellschaft muss lernen, mit systemischen Risiken und Unsicherheiten umzugehen – oder wir müssen lernen, unsere globale Gesellschaft so umzustrukturieren und zu verändern, dass wir robuster auf zukünftige Schocks reagieren können. Viele Regierungen haben angekündigt, dass sie zur Erholung der Wirtschaft nach der Corona-Krise gewaltige Fördersummen zur Verfügung stellen werden. Die Internationale Energieagentur schätzt, dass sich diese Fördermittel auf 9 Billionen Dollar belaufen könnten. Diese Gelder sollten klug genutzt werden, um Projekte, Infrastrukturvorhaben und Geschäftsaktivitäten zu unterstützen, die langfristig zur höheren Widerstandsfähigkeit unserer menschlichen Zivilisation beitragen. Dies ist nur möglich, wenn wir die Grenzen unseres Planeten respektieren. Wir haben derzeit eine einzigartige Gelegenheit, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen sollten.

  5. Wir können es uns nicht leisten, vor globalen Ungleichheiten zurückzuscheuen. Widerstandsfähige Gesellschaften sind Gesellschaften, die Gemeingüter erzeugen und erhalten; zu diesen Gütern gehören unter anderem für alle zugängliche Gesundheitssysteme sowie Bildungssysteme, in denen alle Kinder und Jugendlichen gleiche Chancen haben. Krisen treffen benachteiligte Gruppen meist schwerer als andere gesellschaftliche Gruppen. Soziale Spannungen und Unzufriedenheit betreffen alle Lebensbereiche und breiten sich auch über Ländergrenzen hinweg aus. Populistische und nationalistische Bewegungen nutzen diese Tendenzen und zehren von ihnen. Über die vergangenen 30 Jahre ist die globale Ungleichheit immer weiter angestiegen; in vielen Fällen sind Reichtum und Privilegien weniger Einzelner auf Kosten der Umwelt und der schwächsten gesellschaftlichen Gruppen entstanden. Dieser Trend muss umgekehrt werden; Regierungen müssen wesentliche Steuerreformen einleiten und redistributive Strategien sowie Strategien zum Management von natürlichen Ressourcen verbessern.

Schließlich benötigen wir allgemein einen Paradigmenwechsel in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Wir benötigen neue Ansätze, die über die rationale Wahl und Gleichgewichtsparadigmen hinausgehen. Diese sollten in der Lage sein, Systemverlaufswege, Systemwandel, Tipping-Points und Tipping-Interventionen zu erklären und aufzuzeigen. Sie sollten menschliche Akteure berücksichtigen, die unter den Bedingungen des Ressourcenmangels, des Informations-Chaos und der widerstreitenden Interessen handeln und im Kontext großer Risiken und ⁠Unsicherheit⁠ Entscheidungen treffen. Es ist möglich, in den nächsten 20 Jahren eine globale Nachhaltigkeitstransformation zu vollziehen. Dafür müssen jedoch alle beteiligten zu aktiven Akteuren für den Wandel werden und erkennen, welchen Einfluss sie mit ihren politischen und alltäglichen Entscheidungen haben. Wir formen das System in dem wir leben durch unsere Wahlentscheidungen und durch das Hinterfragen und Verändern von nicht nachhaltigen Routinen und Regeln am Arbeitsplatz, in unserer Nachbarschaft, in unserem Freundeskreis und schließlich auch in unserem Haushalt.  Das System ist nicht statisch; es entwickelt sich auf Grundlage unserer Entscheidungen ständig weiter. Komplexe Systeme wie unser Planet und das Verhalten seiner menschlichen Bewohner können nicht vollständig gesteuert und vorhergesagt werden. Wir verfügen jedoch über wissenschaftliche Werkzeuge und Methoden, mit deren Hilfe die Wahrscheinlichkeit bestimmter Resultate unter gewissen Bedingungen abschätzbar ist. Wir verfügen weiterhin über wissenschaftliche Werkzeuge und Methoden, die uns helfen können, diejenigen Interventionen zu verstehen, welche die Wahrscheinlichkeit bestimmter erwünschter Resultate erhöhen. Dieses Wissen sollte genutzt werden, um die Entwicklung unserer menschlichen Gesellschaft zu lenken und ihr planetarisches ⁠Ökosystem⁠ zu unterstützen.

Teile dieses Texts wurden in der Sommerausgabe 2020 des Magazins der European Association of Environmental and Resource Economists (EAERE) veröffentlicht.

_______
Autorin:

Prof. Dr. Ilona M. Otto ist die neu ernannte Professorin für Gesellschaftliche Folgen des Klimawandels am Wegener Center für ⁠Klima⁠ und Globalen Wandel der Universität Graz. Sie leitet eine Forschungsgruppe mit dem Schwerpunkt soziale Komplexität und Systemtransformation (Social Complexity and System Transformation). Ziel der Gruppe ist es, mithilfe komplexer Wissenschaftstheorie und neuartiger Forschungsmethoden soziale dynamische Prozesse und Interventionen zu analysieren, die rasche soziale Veränderungen auslösen können; diese sind notwendig, um die Interaktionen menschlicher Gesellschaften mit der Natur in den nächsten 30 Jahren radikal zu verändern. In den letzten zehn Jahren arbeitete Prof. Dr. Otto am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, wo sie nach wie vor an der Koordination zweier internationaler Projekte mitwirkt. Prof. Otto ist ausgebildete Sozialwissenschaftlerin. Sie wurde in Polen geboren und studierte in Polen, den Niederlanden, Irland und Deutschland. Sie verwendet verschiedene Forschungsmethoden, darunter soziale Umfragen, Fallstudien, Verhaltensexperimente und Simulationen, um Probleme im Zusammenhang mit globalen Umweltveränderungen, Entwicklung, Anpassung und ⁠Nachhaltigkeit⁠ zu analysieren.

Teilen:
Artikel:
Drucken
Schlagworte:
 Corona  Anpassung an den Klimawandel